Lokalaugenschein im Flüchtlingslazarett am Hauptbahnhof

Eine junge Kollegin berichtet von ihren Erfahrungen

Ich will helfen. Im Areal des Hauptbahnhofs finde ich zwischen Kleiderausgabe, Vereinszentrale und Warenlager den Eingang zum Lazarett.
Ich darf mitmachen.  Zeit für Zweifel, ob ich den Anforderungen dieses Szenarios gewachsen bin, bleibt keine.
Sofort bin ich mitten im Geschehen. Ohne Pause behandele ich fünf Stunden einen nach dem anderen. Die Zeit vergeht wie im Flug. Unermüdliche Dolmetscher übersetzen.
„Halsschmerzen, Husten, Durchfall, Erbrechen, Blasen, ….“ sind die meist genannten Beschwerden. Hauptsächlich wird über  0-8-15 Krankheiten geklagt, der Kontakt mit gefürchteten Erregern bleibt aus.
Das Lazarett gleicht einer Spitalsambulanz. Untersuchungseinheiten sind mittels Paravents abgegrenzt. Es gibt einerseits Bereiche für Frauen und Kinder sowie andererseits Untersuchungskojen für Männer. Feldbetten dienen als Untersuchungsliegen.
Medikamente sind in Kisten aus Karton, die mit  Namen von Symptomen oder Wirkstoffen beschriftet sind, sortiert –  „Durchfall“, „Magenschutz“, „Halsweh“, „Antibiotika“, „Schmerz“, „Antihypertensiva“, um einige zu nennen. Außerdem gibt es allerlei Infusionen und Verbandsmaterialen. 

Weiters stehen folgende Hilfsmittel zur Diagnosestellung zur Verfügung: RR-Messgeräte, Blutzuckermessgeräte, Fieberthermometer, Otoskope, Stablampen, Waagen, Stethoskope, etc. 
Das Highlight stellt ein Ultraschallgerät dar.  So müssen weniger Personen zur Abklärung in Spitäler transportiert werden.

Sensationell: Die Privatklinik Döbling hat unsere Arzt-Station mit einem mobilen Ultraschall-Gerät ausgestattet. Damit k…

Geteilt von Train of Hope – Hauptbahnhof Wien #hbfvie am Samstag, 12. September 2015

Die durchschnittliche Konsultation setzt sich folgendermaßen zusammen: Zielgerichtete Anamnese, symptombezogener Status, Passende Medikamente austeilen. Nächster.
Alles verläuft rasch und unbürokratisch. Mich interessieren weder Name noch Versicherungsnummer. 60 Patienten pro Stunde behandeln? – kein Problem! 
Dennoch scheint die  Warteschlange nie zu enden. Alle warten geduldig bis sie an der Reihe sind. Einmal drangekommen begegnen mir die Reisenden freundlich und dankbar.
Besonders in Erinnerung bleibt mir ein Mann, dessen wunde Füße wir versorgten. Er schien nicht fassen zu können, dass er einen Verband angelegt und frische Socken ausgehändigt bekam. Er strahlte und bedankte sich fünfmal. Zum ersten Mal bin ich dankbar, Socken zu haben, weil ich Füße sah, mit denen man ohne Socken in ausgetretenen Sportschuhen tagelang marschierte. 
Einige werdende Eltern kamen mit der Sorge ihr Ungeborenes wäre zu Schaden gekommen, weil die Mütter monatelang zu Fuß unterwegs waren. Eine Untersuchung gab es während dieser Schwangerschaft noch keine. Es war unglaublich wie groß die Freude war, als ich den Ultraschallkopf auf den Bauch der Schwangeren hielt und die Paare zum ersten Mal ihr Kind sehen konnten – den Herzschlag, die Bewegungen der Extremitäten, ….
„Können Sie uns sagen, ob es ein Bub oder Mädchen wird?“, fragten mich alle. Einem Paar konnte ich den Gefallen tun und die starke Vermutung äußern, ein Mädchen gesehen zu haben.
„ Ich wünsche mir ein Mädchen, damit es genauso aussieht wie meine Frau!“, sagt der Mann. Die werdenden Eltern strahlen sich an, man spürt die Liebe, die sie zueinander empfinden und die Freude über ihr ungeborenes Kind. „In guten und in schlechten Zeiten“ ;denke ich mir schmunzelnd und wünsche dieser Familie viele gute.
Leider haben nicht alle so viel Glück. Viele sind alleine unterwegs. Warum das so ist, weiß ich nicht. Einzelschicksale erfahre ich nur wenige.
Ich empfehle allen Patienten, bei denen weiterer Abklärungsbedarf besteht, bei nächster Gelegenheit ein Krankenhaus aufzusuchen. Denn hier bleiben möchte kaum jemand.
Wir seien sehr nett, sagen sie, doch sie möchten schnell weiterreisen, um an ihr Ziel zu gelangen – Germany, Sweden,….
Der Kontakt zu den einzelnen Personen ist durchwegs kurz aufgrund des hohen Patientenaufkommens. Ich weiß meist nicht woher sie kommen, welcher sozialen Schicht sie angehören, mit welcher Absicht sie nach Europa gekommen sind…. Ich weiß so gut wie nichts über meine Patienten am Hauptbahnhof.
Das stört mich nicht, denn meine Aufgabe als Ärztin ist nicht über Situationen oder Menschen zu urteilen, sondern jeden so zu nehmen wie er ist, seine Krankheiten zu behandeln, seine Wunden zu versorgen und aufbauende Worte zu spenden.

Facebook-Gruppe

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(Beigtragsbild © ÖBB/Philipp Horak)

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